Kommentar: Digitalisierung in der Schule – Augen zu und nicht durch!

Vierzig Unterzeichner fordern einen Aufschub der Digitalisierung an Bildungseinrichtungen. Das ist realitätsfern und unkonstruktiv, findet Gregor Schollmeyer.

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(Bild: Ground Picture/Shutterstock.com)

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Ob Digitalverdummung oder Killerspiele: Aufgewärmt schmecken Debatten doch am besten. Der aktuelle Aufhänger ist ein Positionspapier fragwürdiger Unterzeichner. Sie fordern ein Moratorium, also einen Aufschub in der Digitalisierung an Kitas und Schulen bis zur sechsten Klasse. Ist ein Aufschub das, was die Digitalisierung deutscher Bildungspolitik jetzt braucht? Ist es nicht wichtiger, Medienkompetenzen der Schüler zu stärken, statt ihnen die Augen zuzuhalten? Nein, lautet hier die Antwort des bemerkenswerten Bündnisses.

Weite Teile der Realität finden virtuell statt. Das gilt zunehmend auch für kindliche und jugendliche Lebenswelten – ob man das nun wahrhaben will oder nicht. Man muss kein Advokat des digitalisierten Kinderzimmers sein: Kinder benötigen Kompetenzen für den Umgang mit Social Media, Videoplattformen und virtuellen Welten generell. Diese Kompetenzen müssen sie erlernen und verinnerlichen. Mit der Geisteshaltung der mahnenden Vierzig werden Schulen und Lehrkräfte weiterhin auf höchstens ausreichendem Niveau vermitteln können, wie man etwa Online-Quellen bewertet oder seine Aufmerksamkeit steuert. Virtuelle Realitäten sind mittlerweile integraler Bestandteil der täglichen Lebenswelt junger Menschen. Sie konstruieren ihre Realität gleichermaßen aus analogen sowie digitalen Interaktionen und Räumen. Es wäre weitaus wichtiger, ihnen für ihre Lebenswege Werkzeuge an die Hand zu geben, um wachsen und sich behaupten zu können.

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Das hohe Durchschnittsalter der Unterzeichner von 64 Jahren ist grundsätzlich nicht problematisch. Immerhin verdanken wir Männern und Frauen dieser Generationen viele unserer heutigen Errungenschaften in Technik und Digitalem. Was verblüfft, ist die Rückwärtsgewandtheit der fragwürdigen Vierzig. Man kann Kinder weder mit Scheuklappen noch Restriktionen von der digitalen Welt fernhalten. Wenn man es doch tut, provoziert man ungeahnte Konsequenzen und es entstehen tatsächliche Defizite. Die Vorstellung, Kinder bis zur sechsten Klasse aus der digitalen Welt auszuschließen, ist beeindruckend naiv. An dieser Stelle ein kollektives Augenschließen zu fordern, zeugt von einem Mangel an Realitätsbezug. Das Argument, dass es einst Offline-Kindheiten ohne Smartphone gab, ist angesichts heutiger Lebenswelten unhaltbar.

Ein Kommentar von Gregor Schollmeyer

Gregor Schollmeyer ist Redakteur bei heise online. Er studierte Literatur, Kultur und Medien und produzierte Audio-Formate sowie Video-Essays. Softwarethemen und alles rund um Internet- sowie Medienkulturen wecken seine Begeisterung.

Vergleichen wir die mangelhafte Vermittlung digitaler Kompetenzen im deutschen Bildungssektor mit einem Flächenbrand. In diesem Beispiel haben die Unterzeichner den Aufruf gestartet, wütend wegzusehen, statt sich um das Löschen zu bemühen. Sie führen an, dass der Einsatz digitaler Medien enorme Nachteile auf Entwicklungs- und Bildungsprozesse von Kindern und Jugendlichen habe. Das mag im ersten Moment einleuchten, doch es ist von großer Wichtigkeit zu verstehen, wer hier fordert: Im Kreise der Unterzeichner tummeln sich leider nicht nur einschlägige Kulturpessimisten. In diesem Bündnis gehen teils renommierte Wissenschaftler und Ärzte eine unheilige Verbindung mit Berufsschwarzmalern, Corona-Leugnern und esoterischen Wissenschaftszweiflern ein. Die presserechtliche Verantwortlichkeit für das Positionspapier liegt bei der Gesellschaft für Bildung und Wissen e.V. an der Frankfurter Goethe-Universität. Das Vereinsimpressum der Homepage listet keine Namen.

Unter den Unterzeichnern findet sich Psychiater und Neurowissenschaftler Manfred Spitzer. Er prophezeite schon vor Jahren polemisch, dass Kinder, die auf dem Tablet oder Smartphone wischen, auch im Berufsleben "als Putzfachkraft" nie über das Wischen hinauskämen. Schwurbeliger wird es bei der anthroposophischen Kinder- und Jugendärztin Michaela Glöckler, große Verehrerin des mehr als fragwürdigen Theosophen Rudolf Steiner. Glaubt man ihr, hängt Desinteresse an Musik direkt mit einer Neigung zu Lungenkrankheiten in späteren Leben zusammen. Mit von der Partie sind überdies Mobilfunkgegner Klaus Scheler und Ralf Lankau, Rassismusdebattendauergast Christoph Türcke und Waldorfwissenschaftler Tomáš Zdražil.

Die Auseinandersetzung mit Menschen, die Videospiele als Zeitverschwendung verstehen und gegen 5G-Strahlung schimpfen, kann ermüdend sein. Gehen wir lieber auf konkrete Forderungen und die im Positionspapier beschworenen neuen Erkenntnisse ein: Was ist da dran und sind sie haltbar? Und es folgt eine Überraschung: Liest man das Gesuch, wirken die Einwände teilweise plausibel und sind es bisweilen auch. Die vierzig Unterzeichner beziehen sich auch auf den UNESCO-Weltbildungsbericht 2023. Auf über 300 Seiten stößt dieser Bericht zahlreiche zukunftsweisende Fragen an und gibt klare Handlungsempfehlungen. So solle KI im Bildungskontext Lehrkräfte nicht ersetzen, sondern unterstützen. Unregulierte Technologien werden klar als Bedrohung für Demokratie und Menschenrechte benannt. Bei der Nutzung digitaler Medien etwa in Schulen bestehe eine Gefahr der Ablenkung und des Verlusts an zwischenmenschlichem Kontakt.

Der UNESCO-Weltbildungsbericht fordert jedoch auch dazu auf, Bildungssysteme inklusive Lehrpersonal zu befähigen, über und mit Digitalmedien zu unterrichten. Hier ist das Wort "über" besonders wichtig: Lehrern und Pädagogen kommt der Auftrag zu, ihren Schutzbefohlenen adäquate Medienkompetenzen zu vermitteln. Nur so finden sie sich als junge Erwachsene in einer Welt wieder, deren Regeln und Herausforderungen sie verstehen. Nur so wird garantiert, dass Kinder technisch unversierter Eltern nicht zurückbleiben. Der Vorschlag der Vierzig untergräbt ein solches Vorhaben. Er ist rückwärtsgewandt und nicht an einer Lösung interessiert, die digitale Medien als das anerkennt, was sie sind: mittlerweile realitätskonstituierend und allgegenwärtig. Das Potenzial digitaler Medien, um benachteiligte Gruppen einzubeziehen und Chancengleichheit zu fördern, übersehen die Unterzeichner. Als Wortführer einer Diskussion von dieser Wichtigkeit wünsche ich mir qualifiziertere Menschen. Ich würde mein Kind lieber acht Stunden unbeaufsichtigt "Minecraft" spielen lassen, als es dieser Expertenriege zu übergeben.

Trotzdem begrüße ich den Aufruf am Ende der Moratoriums-Forderung. Sie fordern nämlich die Aufnahme des "öffentlichen Diskurs über die notwendigen pädagogischen Prämissen des Einsatzes digitaler Medien in Bildungseinrichtungen". Aber bitte nicht aus der Richtung der vierzig Unterzeichner, denn ihre Argumentation ist unkonstruktiv und realitätsfern. Der Einsatz digitaler Medien muss geschehen, wenn wir zukünftige Generation für ein Leben im fortschreitenden 21. Jahrhundert qualifizieren wollen. Dafür braucht es konkret Medienpädagogen, Erfahrungswerte und Erkenntnisse aus aktiven Lernprozessen. Nichts davon wird man mit geschlossenen Augen erreichen. (grs)